Stephan Koja – Farbe und Erkenntnis
FARBE UND ERKENNTNIS
Zur Malerei von Andrea Bischof
Es ist schwer, sich der Faszination der Bilder von Andrea Bischof zu entziehen. Ihre Farben, wie von einer inneren Bewegung ergriffen, scheinen zu atmen, wie aus der Tiefe zu pulsieren. In einigen von ihnen leuchten die Töne nicht nur, sie glühen und lodern gleichsam.
Es sind ungegenständliche, den Pinselstrich offen zu Schau tragende Bilder, die sich nicht in einem vordergründig verblüffenden Auftritt, nicht in einem leeren Gestus erschöpfen, sondern nach und nach und in immer reicherer Weise dem Betrachter ihre Ausgewogenheit und koloristische Subtilität erschließen.
Jahrelang hat die Malerin ihre Bildsprache verfeinert, das Wesentliche vom Überflüssigen getrennt, um diesen inneren Rhythmus, diese Leichtfüßigkeit zu erreichen, die bei allem Quirligen des Pinselstrichs, bei aller volltönenden Farbigkeit doch stets Kompositionen von großer Ruhe schafft.
Eine Malerei auf diesem schmalen Grad zwischen dem Belanglos-Dekorativen und vorlauter Wichtigtuerei gehört zum Schwierigsten überhaupt – jener Anspruch auf höchste Intensität bei sparsamen Mitteln und auf das Zwingende der gefundenen Lösung.
Damit gehört Andrea Bischof heute zu den wichtigsten Vertretern informeller Malerei in Österreich. Während Markus Prachensky in seinen Acrylbildern die große, herrschaftliche Geste vorträgt, Wolfgang Hollegha seine mit Terpentin verdünnten Ölfarben auf die Leinwand schüttet und mit der Schüssel verstreicht, während Hans Staudacher und Martha Jungwirth möglichst unmittelbar und ungehemmt die Leinwand mit Pinsel und Farbe attackieren, ist Andrea Bischof eine Meisterin der Zwischentöne.
Zwar malt auch sie kraftvoll, mit ausgestrecktem Arm, und findet in den über die Leinwand verteilten Farbkringeln eine Formensprache, die ihre Empfindungen in eine eigene Bildsprache zu übertragen versteht, doch bleibt dieses Vorgehen stets kalkuliert und höchst präzise. Denn in den über viele Wochen reifenden Bildern hebt sie aus dem geduldig aufgebauten Bildkörper allmählich die endgültige Gestalt heraus, die dann eine erstaunlich starke Präsenz entwickelt.
Farben finden
Zuweilen scheint bei zeitgenössischen Künstlern geradezu eine Angst vor Farbe zu herrschen – wohl ausgelöst durch die schrillen Töne der Neuen Wilden in den frühen 1980er Jahren. Nicht so bei Andrea Bischof, deren Arbeiten großen koloristischen Reichtum besitzen und so zum berührenden Farberlebnis werden. Angesichts ihrer leuchtenden Pracht ergreift den Betrachter eine innere Heiterkeit, ein beglückendes Gefühl reiner Harmonie.
Farbe an sich ist das eigentliche Ziel von Bischofs Malerei. Dabei handelt es sich nicht um ein Schwelgen in der Sinnlichkeit der Farbe, sondern um einen klaren konzeptionellen Ansatz. Von jeher faszinierte Bischof in ihrer Kunst das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, von Haut und Grundierung.
So baut sie ihre Bilder über einem starkfarbigen Grund auf, über den sie Malschicht um Malschicht legt, bis sie die fein gewobenen Oberflächen erreicht hat, in denen sie in Form kleiner Aussparungen Teile des Darunterliegenden durchscheinen lässt. Oft wirken diese Formen und Muster, als wären sie nachträglich auf das Bild gesetzt oder schwebten wie zarte Gebilde über der farbigen Fläche. Bischof gibt den Bildern also im realen Sinn Tiefe, lässt den Betrachter teilweise – in den Aussparungen – bis ganz „hinunter“ blicken auf den Grund. So holt Bischof gleichsam aus der Farbmaterie Gebilde ans Licht, lässt sie auftauchen – und verbirgt andere. Damit bringt sie den Farbleib in Bewegung, macht ihn mit den wogenden Bildflächen zum atmenden Organismus.
Um dies zu erreichen, bedient sich Andrea Bischof der traditionellen Öltechnik und beweist damit, dass diese Form der Malerei lebt. Sie liebt dieses Medium, da es ihrem Bildaufbau in besonderer Weise entgegenkommt, im Auftragen von Lasuren jenes tiefe Leuchten der Farbe ermöglicht und darunterliegende Strukturen durchscheinen und sozusagen mitsprechen lässt. Arbeitet sie auf Papier, so bevorzugt sie Japan- und Seidenpapiere, die zart und transparent sind und sofort auf jede Behandlung reagieren. Auch hier vermag sie durch das Übereinanderlegen von Papierbögen unterschiedliche Schattierungen des Untergrundes und den Eindruck von Tiefe zu erzeugen.
Dominierten in früheren Jahren annähernd monochrome Arbeiten, die in fein abgestuften Valeurs geheimnisvolle Zonen in den Flächen öffneten und die meist gedeckten Töne in Bewegung brachten, so hat Bischof ihre Untersuchungen in letzter Zeit in Bilder reicher Farbigkeit, ja leuchtenden Kolorits verlegt. Noch immer kennen die Bilder kein Zentrum, doch ist der Pinselstrich nun vernehmbarer, er zeigt im teilweise energischen Gestus deutlich die Handschrift der Künstlerin. Nun huschen die Kringel behende über die Leinwand oder ergießen sich Farbkaskaden über die leuchtende Fläche.
Dieses koloristische Fest für die Augen erzielt Bischof durch das raffinierte Nebeneinandersetzen von Farben und durch deren Aneinanderstoßen an ihren Kanten. Es ist die Simultaneität leuchtender Töne, die zu ihrer gegenseitigen Steigerung und zu volltönenden Akkorden durch optische Farbmischung führt.
Mit immer neuer Begeisterung sucht Bischof nach den Beziehungen der Farben – und nach der Sprache, die aus dieser Unterhaltung der Töne untereinander entsteht und jene neue, verblüffende Botschaft vermittelt, die ihre Bilder vortragen. So wie Rainer Maria Rilke im Angesicht von Paul Cézannes Portrait seiner Frau[1] auf einmal die Bezogenheit der Farben aufeinander begriff: „Es ist, als wüßte jede Stelle von allen. So sehr nimmt sie teil; so sehr geht auf ihr Anpassung und Ablehnung vor sich; so sehr sorgt jede in ihrer Weise für das Gleichgewicht und stellt es her: wie das ganze Bild schließlich die Wirklichkeit im Gleichgewicht hält.“[2]
Gerade Bilder wie Pulsation Nr. 18 aus dem Jahr 2008 führen eindrucksvoll vor Augen, wie sehr es in der Malerei Bischofs um Intensivierung, um reichere Orchestrierung geht. Da brandet ein leuchtendes Orange inmitten von strahlendem Zinnoberrot und dunkel glühendem Karmesinrot, ja scheint zu brodeln zwischen Inseln von kühlem Blau und Violett – und schafft so eine Dramatik, die von einem vielstimmigen Chor an Tönen erzeugt wird und an der man sich nicht sattsehen kann.
Damit eine Malerei von derartiger Intensität entstehen kann, braucht es Konzentration, innere Sammlung, ja Stille. Dementsprechend hat sich Andrea Bischof in ihrem Atelier eine Umgebung geschaffen, die ihr erlaubt, mit ihrer Musikalität auf den Klang der Farben zu lauschen. Immer weiter hat sie die Fenster ihrer Werkstatt verhängt, das Glas mattiert, um die Kontemplation zu fördern, die diese Bilder gebiert. Denn sie hat die Erfahrung gemacht, dass selbst die herbstliche Natur vor dem Fenster mit ihrem gelben und orangen Laub zur Ablenkung führen und die Konzentration stören konnte. So bleibt es ganz still im Atelier, keine Musik, kein Telephon – nur die Leinwand, die Farben und die Malerin mit ihren Pinseln.
Andrea Bischof beginnt früh am Morgen mit dem Arbeiten, sie braucht das Tageslicht, und der Rhythmus des natürlichen Lichts bestimmt auch ganz wesentlich den Fortschritt ihrer Bilder. Mit Sonnenuntergang lässt sie die Arbeit ruhen und widmet sich Familie und Freunden. Doch vor dem Schlafengehen kehrt sie – einem täglichen Ritus gleich – noch einmal ins Atelier zurück, um das Geschaffene zu betrachten. Da schaut sie nur – rund eine Stunde lang – und überlegt, was sie weiterentwickeln oder verändern könnte. So kann sie am nächsten Morgen unmittelbar und ohne Zögern bei der Arbeit des Vortags anschließen.
Bischofs Atelier ist karg – ein alter Tisch und ein Sofa sind die einzigen Einrichtungsgegenstände, daneben die Stöße zur Wand gedrehter Bilder, die Rolle mit Leinwand und die Latten der noch zusammenzusetzenden und zu bespannenden Keilrahmen – nichts lenkt ab von der Entstehung der Bilder.
Es ist eine Kargheit, die an Caspar David Friedrichs Atelier erinnert, von dem wir durch Bilder Georg Friedrich Kerstings[3] und Schilderungen einiger Zeitgenossen Kenntnis haben: Nüchtern kahle Wände, mit Innenläden teilweise verschlossene Fenster – und nur das eine, zu schaffende Gemälde auf der Staffelei. Ganz im Sinne seiner Forderung: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht. Sonst werden seine Bilder den Spanischen Wänden gleichen, hinter denen man nur Kranke und Tote erwartet.“[4]
Hier entwickelt Andrea Bischof geduldig und über Wochen ihre Bilder, ergänzt, steigert, erweitert die Aussage. Um ihre zum Teil sehr großen Formate bewältigen zu können, hängt sie die Keilrahmen einfach auf zwei Nägel an der Wand.
Meist arbeitet sie an drei Bildern gleichzeitig. Hat sie einen Punkt erreicht, an dem sie spürt, dass ein Weiterarbeiten mehr zerstören als fördern würde, bringt sie ihre Gemälde an ihrer „Kontrollwand“ an, wo sie sie lange belässt und immer wieder, auch aus den Augenwinkeln, betrachtet – und gegebenenfalls noch die eine oder andere Verbesserung vornimmt. Dann stellt sie sie weg, nimmt sie erst nach längerem Zeitraum wieder hervor und überprüft, ob sie noch immer ihren Ansprüchen standhalten können.
Dabei empfindet es Andrea Bischof als ihr größtes Glück, beim Malen, wie sie sagt, „Farben zu finden“. Denn es ist eine Art Farbforschung, die sie betreibt. Ihre Arbeit ist getragen von dem Wunsch, etwas zu malen, was sie noch nie gesehen hat, etwas Neues auf die Welt zu bringen. Und es ist der Versuch, die Welt über die Farbe zu erfahren, ja in der Farbe zu verstehen, indem man das Wesen der Farben in ihrem Innersten zu begreifen sucht.
Es ist ein Finden durch Erarbeiten. Ein Ringen – und Reifen – in der ununterbrochenen Arbeit, in der sich schließlich der beglückende Moment einstellt. Denn Entdeckungen macht man, wenn man beständig den Weg weiterverfolgt, den man zu beschreiten begonnen hat, das weitermacht, was man kann. „Man kann nur im ‚Gekonnten’ bleiben in der Kunst,“ schreibt Rilke, „und dadurch, daß man darin bleibt, nimmt es zu und führt immer wieder über einen hinaus. Die ‚letzten Ahnungen und Einsichten’ nähern sich nur dem, der in der Arbeit ist und bleibt, mein’ ich, und der, der sie von ferne bedenkt, bekommt keine Macht über sie.“[5] Erst in dieser beständigen Schulung des Schauens werden Auge, Geist und Körper eins, stellt sich ein tranceartiger Zustand der Empfindsamkeit ein, und gleichsam wie von selbst entsteht unter dem Pinsel der Malerin das Kunstwerk.
Und so arbeitete Bischof ihre farbigen Untersuchungen, ihre koloristischen Modulationen konsequent in Bilderreihen oder teilweise großen Serien wie den Reflexionen (ab 1993) oder später den Pulsationen (ab 2005) ab.
Im langsamen Entwickeln des Bildes wird so Malen für Bischof zum Erkenntnisprozess. Es geht, auf dem Weg hoher Empfänglichkeit für die Intensität der Farbe, um das Erkennen von Gesetzen der Harmonie. Letztlich sucht Bischof nach einer Schönheit, die Tiefe besitzt. Nicht jene oberflächliche Schönheit, die am Ende hohl bleibt und nur Enttäuschung zurücklässt, sondern eine Schönheit, die auf Größeres verweist – gleichsam als „splendor veri“[6], wie es die scholastische Tradition genannt hat -, und die als solche immer wieder neu beglückt.
Frühe Prägungen
Dabei hat Bischofs Gabe, „Farben zu finden“ und diese zum Leuchten, Schwingen oder Vibrieren zu bringen, ganz wesentlich mit ihrer Gabe zum Schauen zu tun. Und diese hat sie schon früh entwickelt.
Von klein auf war sie von Kunst beeindruckt, erlebte dieses Staunen vor dem Einfallsreichtum der Maler und ihre Begeisterung für Farbe. Lange schwankte sie, welcher ihrer Begabungen sie den Vorrang geben sollte – der Musik oder der bildenden Kunst. Schließlich entschloss sie sich für letztere und fand in ihren Eltern große Unterstützung.
In Büchern, Kirchen und Museen – und vielfach an alten Meistern – schulte sie ihre Sensibilität, das Erkennen von Nuancen. Dazu traten der Schmuck alter Bauernschränke und die in Tirol überall gegenwärtige Barockmalerei – die wohl auch für eine gewisse Leichtigkeit und Daseinsfreude verantwortlich zeichnen, die bis heute Bischofs Malerei charakterisiert.
Eine besondere Schule des Sehens stellten von früh an die Berge rund um Bischofs Heimatstadt Schwaz dar, die hier nicht so nah und unmittelbar über der Stadt aufragen wie in Innsbruck und somit eher wie eine Ansicht erscheinen, auf die man blickt.
Es ist ein Kalkgebirge, spärlich bewaldet und daher voll grauer Nuancen – gleichsam ein farbiges Grau. Blickt man bei Bewölkung plötzlich durch Löcher im Nebel oder in den Wolken auf die Felswand, so wird sie zum Bild – und zeigt stets neue Beleuchtungen und Schatten, sodass das Grau seine Schwere verliert. Wie Kulissen wirken dann an solchen Tagen die Bergmassen, Schründe und Erhebungen voreinander geschoben. Hier ist das Grundthema von Bischofs Malerei, das Auftauchen und Sich-Verbergen, von Fläche und Tiefe bereits im Naturschauspiel präfiguriert. Und dass das Erlebnis der umgebenden Bergwelt das Werk eines Künstlers ganz wesentlich prägen kann, beweisen die Plastiken Alberto Giacomettis, deren raue, zerfurchte Oberflächen an die wildzerklüfteten Felsen der sein Heimatdorf Stampa im Schweizer Bergell umstehenden Gipfel erinnern.[7]
Die hier in den Jugendjahren entfaltete Begabung Bischofs für Farben fand zusätzliche Bestätigung und vielfache Anregung in den Vorlesungen von Johannes Schreiber, der während ihres Studiums am Mozarteum in Salzburg Farbenlehre vortrug. Nicht nur, dass er ein Experte für Koloristik war – er besaß zudem die Gabe, so über Farbtöne zu sprechen, dass man sie augenblicklich vor sich sah.
Folgerichtig setzte sich Bischof intensiv mit der Farbenlehre von Johannes Itten und den Farbexperimenten von Robert und Sonia Delaunay auseinander. Auch die Farben in der Lyrik eines Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Paul Celan sollte sich Bischof als Frucht der Vorlesungen ihres Lehrers erschließen.
Eine bleibende Faszination übte auf Bischof der Kolorismus der Venezianer aus – und hier neben den Meistern des 16. Jahrhunderts wie Tizian, Tintoretto oder Veronese besonders die Rokokomalerin Rosalba Carriera, die durch die delikate Farbigkeit ihrer Pastelle berühmt geworden war und bei Künstlern wie Publikum hohe Wertschätzung genossen hatte.
Wiederholte Aufenthalte in den USA während und nach den Jahren des Studiums hinterließen bei Bischof tiefe Spuren. Ein Monat in New York im Jahr 1987 war für Bischof wie eine Offenbarung – die Malerei der Moderne hier eingehend studieren zu können, war größtes Glück.
Die Weite der Landschaft New Mexicos und der sich darüber spannende geradezu endlose Himmel, denen sie zunächst im Haus einer Freundin in Albuquerque und später in einem angemieteten Atelier in Carizozo begegnete, sollten Bischof zu ihren ersten flächigen Bildern anregen, die eine vergleichbare Weite evozierten.
Von der Lebendigkeit der Tradition
Die Malerei des amerikanischen Expressionismus war es auch, die Andrea Bischof bei der Formung ihrer eigenen Bildsprache in besonderer Weise bestärkte.
Immer hatte Bischof nach einer Malerei gestrebt, die sich nicht dem Modischen unterwirft, sondern nach einer Bildsprache, die tiefer geht und gültig ist, und sich im Rahmen einer visuellen Tradition sieht. Und seit jeher hatte Bischof auch eine Affinität zur französischen Kunst empfunden und den Wunsch verspürt, mit ihrer Arbeit bei den Erkenntnissen der Impressionisten, der Nabis und der Fauves anknüpfen – besonders, was die Wirkmacht der Farbe anbelangt. Dass sich die Maler des amerikanischen Expressionismus teilweise direkt auf Monet bezogen, entsprach auf das Engste auch Bischofs Intentionen.
Mit der Malerei des Impressionismus war ja ein neue Art der Wahrnehmung in die Kunst gekommen. Einen neuen Blick strebte man an, unbefangen und frei von allem Vorgewussten – ein reines Sehen, wie das eines Blinden, der gerade das Augenlicht wiedererlangt hat. Dieses neue Sichtweise war von den Wissenschaften ausgelöst worden. Physiologische Erkenntnisse und psychologische Theorien über die Wahrnehmung hatten dazu geführt, die Wirklichkeit nicht mehr rein in ihrer physischen Gegebenheit sondern als optische Erscheinung aufzufassen.
Auch Monet hatte im Zuge seiner Arbeit die Überzeugung gewonnen, dass die einzige Sicherheit, die zu gewinnen ist, im Sehen der Phänomene liegt, man die Dinge selbst aber nicht in seinen Besitz bringen kann. Nur den Eindruck – „l’impression“ – von ihnen könne man ständig verfeinern und ihnen auf diese Weise näherkommen.
So ging es immer weniger um den Bildgegenstand selbst als um die vielfältigen Wirkungen des Lichts und der Atmosphäre auf ihn. Und zugleich wurde er durch die Art der Darstellung, die nicht mehr eine fest umrissene Struktur, sondern vielmehr farbliche Effekte vorführte, aufgelöst. Entscheidend dabei war die impressionistische Technik der Farbzerlegung, die Hervorbringung eines Tons durch eine Fülle anderer, oft auch kontrastierender Töne, und die Charakterisierung der Bildmotive durch farbige Flecken, Punkte und kurze Pinselstriche. Dadurch wurde ihre Schilderung notgedrungen summarisch, die Objekte primär über ihre Farbwerte definiert. Monet war hierin nicht nur Vorreiter, sondern der konsequenteste Anwender, die reinste Verkörperung dieses Prinzips.
Damit war das Tor zu entscheidenden Fragen der Moderne aufgestoßen, und besonders Monets Malerei entwickelte sich zunehmend zu einer Reflexion über das Sehen selbst. Da verwundert es nicht, dass gerade sein Werk vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart immer wieder zum Anknüpfungspunkt für Maler und Photographen wurde.
Denn wenn Monet die einzelnen Gemälde seiner Serien anfänglich noch nach den Tageszeiten oder dem Wetter zu bezeichnen pflegte (Morgen, Mittagssonne, Sonnenuntergang, Trübes Wetter, Nebel usw.) so traten mit der Zeit Bezeichnungen hinzu, die vorwiegend die Farbwirkungen benannten: symphonie en rose, symphonie en bleue, harmonie brune, effet grise und dergleichen. Wurde doch in den Serien der 1890er-Jahre überhaupt fast nur noch anhand der Motive die Beziehung von Farbtönen und der Modulationen abgehandelt und in Bilderreihen variiert.
Mit den Nymphéas, den Seerosenbildern des Spätwerks, insbesondere den Arbeiten an den Grandes décorations in den Jahren 1920-1926 hatte Monet schließlich die unmittelbar geschilderte Wirklichkeit verlassen, um ihr auf einer abstrahierten Ebene wieder zu begegnen oder sie darin zum Aufleuchten zu bringen. Das meditative Element der Betrachtung der spiegelnden Welt seines Seerosenteichs mag das Seine dazu beigetragen haben. In der Reflexion der verschiedenen Ebenen des Wahrgenommenen wurde die Frage nach dem zugrunde liegenden Gültigen auf neue Weise gestellt. Und sie wurde in der Schönheit der Farbe, der Textur des Pinselstrichs, der Ausponderierung leuchtender und dunkel verhaltener Flächen beantwortet. Vor allem aber wurde auf das Allernotwendigste reduziert: Nur einige Blätter und Blüten stehen noch für das Ganze, werden überaus kühn und offen, teilweise nur andeutend geschildert. Es gibt keinen Horizont mehr, keine stabilisierenden Linien, kaum mehr ordnende Struktur, keine Perspektive. Alles ist Wasserfläche, ohne Anfang und Ende. Realität und Spiegelung verschmelzen miteinander und lassen den Betrachter gleichsam eintauchen in eine geheimnisvolle Welt der rein sinnlichen Seherfahrung.
Interessanterweise war es erst den Malern zur Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben, sich dessen in seiner ganzen Dimension bewusst zu werden. Die radikale Auflösung der Darstellung in der Farbe, die betonte Zweidimensionalität, das Zurückdrängen des Gegenstands, schließlich die zunehmende Autarkie der Malerhand sollten Eigenschaften von Monets Spätwerks sein, die eine junge Künstlergeneration nach 1945 neu zu schätzen wissen sollte. Erst die Auseinandersetzung dieser Maler mit dem späten Monet führte auch in der Kunstwissenschaft zu einer Neubesinnung auf seine letzten Schaffensjahre. Die Arbeiten von Jackson Pollock, seine dezidierten Querformate, hatten den Blick für den späten Monet geöffnet. Besonders aber Clifford Still und Barnett Newman, beide „Bewunderer Monets“,[8] bezogen sich ausdrücklich auf dessen Werk. Durch Clifford Still angeregt, sollte sich in der Folge auch Marc Rothko intensiv Monets Spätwerk zuwenden. Was all diese Maler mit dem Franzosen verband, waren die großen, oft wandfüllenden Formate, mit denen man eine ähnliche Monumentalisierung der Bildwirkung anstrebte, und gleichzeitig ihr meditativer Charakter, der den Betrachter zum Innehalten und Sich-Vertiefen aufrief. Dabei faszinierte das „all over“, das vollständige, gleichmäßige Überziehen der Bildfläche mit künstlerischer Gestaltung, das man in Monets Seerosenbildern vorfand.
In der Nachfolge jener ersten Generation abstrakter Expressionisten setzte sich auch eine Reihe jüngerer Künstler wie Joan Mitchell, Sam Francis oder Jean Paul Riopelle mit Monet auseinander, die man bald – auch aufgrund dieses Umstands – als Maler eines „Abstrakten Impressionismus“ bezeichnen sollte.
Gerade einer Malerin wie der aus Chicago stammenden Joan Mitchell, die nach Paris und später Vétheuil gegangen war und sich ausdrücklich auf die französische Kunst und das Spätwerk Claude Monets bezogen hatte, fühlte sich Andrea Bischof verbunden. Sie schätzte ihren kraftvollen Pinselduktus, die Verdichtungen der Striche, das Verwobensein mit dem Untergrund, auch das Gewicht der Farbe.
Ein besonderes Charakteristikum der späten Arbeiten Monets und im Besonderen der Nymphéas besteht ja darin, dass sich alle Bildgrenzen aufheben, oben und unten verkehren, dass Realität und Spiegelung, Oberfläche und Tiefe in dem Gefüge prachtvoller Farben zusammenfließen und auf einer neuen Ebene, der reinen Malerei, eine neue Existenz erschaffen: die des Bildes. Mit Monets epochalem Spätwerk haben sich die Welt des Realen und die Welt des Imaginären zu vermischen begonnen, begegnen sich Eingebung und gesehene Wirklichkeit auf der gleichen Ebene. Damit ist der Weg freigemacht für eine autonome Malerei, die ganz aus dem Inneren schöpft.
Gerade um diesen Kern dreht sich die Arbeit von Andrea Bischof. Auch ihre Bilder stellen sich als ein farbliches Kontinuum dar, das nur wie zufällig durch die Bildränder beschnitten wird. Wie bei Monets Wasserflächen in seinen Nymphéas steigt aus der Tiefe etwas auf, drängt aus der Struktur der Farbpläne etwas an die Oberfläche, regt sich eine innere Kraft, die rein über die Farbe wahrgenommen wird. Eine Malerei des Freilegens und Verbergens, des Darüber und Darunter, Vor und Zurück, farbige Oberfläche und farbige Tiefe.
Abgesehen von einigen quadratischen Bildern verwendet Bischof bevorzugt das Hochformat, kommt es doch ihrem Arbeiten von oben nach unten entgegen. Der daraus resultierende Pinselduktus bringt sie dabei zuweilen in erstaunliche Nähe zu manchen der späten Bilder Monets wie etwa den Glyzinien von 1919/20 oder den Bildern der Japanischen Brücke aus den Jahren 1918 bis 1924 – und doch ist ihre Malerei etwas ganz anderes, Eigenes. So verkörpern Bischofs Bilder eine Malerei, die eine reiche Tradition fortsetzt und gleichzeitig auf das Eindrucksvollste erneuert.
Die Sinnlichkeit der bebenden, von innen her glühenden Farbflächen, das weiche Pochen der Töne auf Bischofs Bildern erreichen zuweilen die Intensität des späten Pierre Bonnard, der ja auch seine Schlüsse aus Monets Kolorismus gezogen hatte– jene Auflösung der Darstellung in große Bildpläne, jene Befreiung der Farben zu ihrem Eigenleben in einem prachtvollen Schauspiel reicher koloristischer Orchestrierung. [9]
Über diese Farbereignisse kommunizieren Bischofs Werke auf einer anderen Ebene als der gegenständlichen oder begrifflichen mit dem Betrachter, sprechen ihn auf subtile und doch äußerst intensive Weise in seinem Innersten an wie Musik.
Diese tief ins Seelische gehende, den Menschen in seinem Gemüt berührende Wirkkraft der Farbe war Hugo von Hofmannsthal 1901 angesichts von Bildern van Goghs aufgegangen, als er mit einem Mal „das Eigentliche, das unbeschreiblich Schicksalshafte“[10] sah. „Und nun konnte ich, von Bild zu Bild, ein Etwas fühlen, konnte das Untereinander, das Miteinander der Gebilde fühlen, wie ihr innerstes Leben in der Farbe vorbrach und wie die Farben eine um der andern willen lebten und wie eine, geheimnisvoll-mächtig, die andern alle trug, und konnte in dem allem ein Herz spüren, die Seele dessen, der das gemacht hatte […].“[11]
[1] Paul Cézanne, Madame Cézanne im roten Lehnstuhl, um 1877, Öl auf Leinwand, 72,4 x 55,9 cm, Museum of Fine Arts, Boston.
[2] Rainer Maria Rilke an Clara Rilke, Paris, 22. Oktober 1907, zitiert nach ders. Briefe über Cézanne, (hrsg. Von Clara Rilke), Frankfurt a. M. 1983, S. 59. (Die Hervorhebung im Text stammt von Rilke.)
[3] Vgl. Georg Friedrich Kersting, Caspar David Friedrich in seinem Atelier, um 1811, Öl auf Leinwand, 54 x 42 cm, Hamburger Kunsthalle.
[4] Zitiert nach: Sigrid Hinz (Hrsg.), Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, 2. veränderte und erweiterte Ausgabe, Berlin 1973, S. 125.
[5] Rainer Maria Rilke an Clara Rilke, Paris, 28. Juni 1907, wie Anm. 2, S. 14.
[6] Pulchrum est splendor veri. (Das Schöne ist der Glanz des Wahren.) Ein Satz, der von Plato über Augustinus bis zu Thomas von Aquin Verwendung findet.
[7] Die Anregung zu dieser Beobachtung verdanke ich Ulf Küster: „Alle künstlerischen Aufgaben und Probleme, denen er sich stellte, findet man angedeutet im Tal seiner Herkunft.“ Ulf Küster, Alberto Giacometti. Raum, Figur, Zeit, Ostfildern 2009, S. 20.
[8] Vgl. Clement Greenberg, „’American-type’ Painting“, in: Partisan Review, 22, Frühling 1955, S. 179f. In überarbeiteter Form wiederabgedruckt in: ders., Art and Culture, Boston 1961, S. 221.
[9] Nach dem Erwerb der Villa „Ma Roulotte“ in Vernonnet nordwestlich von Paris im Jahr 1912 hatte Bonnard Monet im nahe gelegenen Giverny regelmäßig besucht.
[10] Hugo von Hofmannsthal, „Die Farben“ (aus den Briefen des Zurückgekehrten, 26. Mai 1901), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1934, S. 225.
[11] Ebenda, S. 227.